Freitag, April 19, 2024
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«Ich wollte frischen Wind um die Ohren»

Nikolaus Wyss ist ein engagierter Zeitgenosse. Während seiner Schlieremer Zeit kandierte er für den Stadtrat, wurde dann aber nur Gemeindeparlamentarier. Er war Mitglied der reformierten Kirchenpflege und führte Stadtführungen durch. Jetzt lebt Wyss in Kolumbiens Hauptstadt Bogota und hat ein Buch herausgegeben, dessen Verkaufserlös jenen zugute kommen soll, die dort wegen der Coronavirus-Pandemie hungern müssen.

Nikolaus Wyss lebte von Anfang 2010 bis Ende 2016 in Schlieren. Hierher kam er per Zufall. Nach seiner Pensionierung als Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern wollte der ehemalige Journalist und Theaterproduzent wieder näher bei Zürich wohnen. «Mir fehlte aber das Geld und die Geduld, in der Stadt Zürich selbst eine passende Wohnung zu suchen», sagt Wyss. Deshalb wurde es dann Schlieren.

Schlieren bezeichnet Wyss als «eine merkwürdige Mischung aus dörflichen Strukturen und urbanem Anspruch». Langsam scheine aber auch der Letzte zu merken, dass Schlieren ein Teil der Grossstadt Zürich sei, meint er. Aber gerade das Gezerre um die Limmattalbahn in der Stadt habe gezeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen Schlierens teilweise immer noch seien.
2015 kandidierte Wyss für die Grün-Liberale Partei (GLP) für den Stadtrat. Er erreichte zwar das erforderliche Mehr für die Wahl, schied aber als überzählig aus. Darauf fristete er sein politisches Dasein während fast zwei Jahren als Mitglied des Gemeindeparlaments. Im Verlauf von 2016 räumte Wyss dann seinen Sitz und überliess ihn Songül Viriden.
Gestresst als Gemeindeparlamentarier

Als Gemeindeparlamentarier setzte sich Wyss vor allem für eine grössere Wohnqualität in Schlieren ein. Er bekam es dabei aber gemäss eigenen Worten mit «Hardcore-Schlieremern» zu tun, die sich vor allem als Sprachrohr des ortsansässigen Gewerbes verstanden. Das stresste Wyss, der selber zwischen Ansprüchen an die Wohnqualität und Ansprüchen des Gewerbes keinen fundamentalen Widerspruch sah. «Also entschied ich mich, ein neues Kapitel in meinem Leben aufzuschlagen.»

Wyss verliess Ende 2016 die Schweiz und wanderte nach Kolumbien aus. Dort wohnt der heute 71-jährige in der Hauptstadt Bogota und betreibt ein Bed & Breakfast. «Man kann auch in einem anderen Erdteil sterben. Dazu muss man nicht in der Schweiz bleiben», sagt Wyss dazu. Um sich hier eine rollstuhlgängige Wohnung fürs Alter zu suchen, sei es ihm eindeutig zu früh gewesen. Also zog Wyss in ein Land, das er schon von früher kannte. Er hatte 1971/72 schon einmal in Kolumbien gelebt und in Bogota als Buchhändler gearbeitet. «Ich wollte mir noch einmal etwas frischen Wind um die Ohren blasen lassen», begründet Wyss seinen Wohnortswechsel.

Bogota sei ein bisschen wie Schlieren, sagt Wyss: «Die Wohnlichkeit hat dort wie hier noch ein grosses Entwicklungspotenzial.» Als alter Ethnologe frage er sich manchmal, wie die Leute an solchen Orten glücklich werden könnten. Und je mehr man nach Antworten suche, umso interessanter würden solche Umgebungen. «In diesem Sinn gefällt es mir in Bogota, auch wenn kein Kolumbianer versteht, wieso ich aus dem paradiesischen Schoggiland Schweiz ausgrechnet in eine doch eher mühsame Gegend mit Sicherheitsproblemen und dünner Luft gewechselt habe.»

Wie die Schweiz wird auch Kolumbien gegenwärtig von der Coronavirus-Pandemie heimgesucht. Dort sind die Auswirkungen für viele aber ungleich dramatischer als hier. «Ganz besonders für die ärmeren Bevölkerungsschichten wird es zunehmend eng», sagt Wyss: Keine Arbeit, Verarmung, Hunger. Mit roten Tüchern vor den Wohnungsfenstern signalisieren Menschen, dass sie nichts mehr zu essen haben. Esswaren erhalten sie in Suppenküchen und von Hilfswerken.

Eine Lesebuch gegen den Hunger
Das war der Grund, weshalb Wyss jetzt unter dem Titel «Auf dem Amakong» ein Lesebuch gegen den Hunger herausgegeben hat. Dessen Verkaufserlös kommt Suppenküchen in Kolumbien zugut. Mit den 30 Franken, die das Buch kostet, kann eine kolumbianische Familie während mehr als einer Woche ernährt werden. Gedruckt werden konnte das Buch dank einem erfolgreichen Crowd Funding.

In dem Buch hat Wyss 47 kürzere Texte versammelt, die aus seinem Blog stammen, den er regelmässig mit Beiträgen füttert. Die Texte sind in die drei Kapitel «Unterwegs», «In Kolumbien» und «Ferne Heimat» gegliedert. Sie enthalten Reiseerlebnisse von Wyss aus fünfzig Jahren, erklären warum er in Kolumbien lebt und wie er sich dort zurechtfindet und werfen einen Blick zurück auf seine Zeit in der Schweiz. Wyss hat Auszüge aus dem Buch im Oktober an einer Lesung in der Stadtbibliothek Schlieren vorgestellt.

Die Schriftstellerin Milena Moser, die Wyss seit längerem kennt, schreibt in ihrem Vorwort mit der Überschrift «Das unbeabsichtigte Meisterwerk» über ihn und sein Buch: «Seine Beobachtungen sind genau, feinfühlig, berührend, messerscharf und vernichtend. Er nimmt keine Rücksicht mehr, schon gar nicht auf sich selbst. (…) Seine Texte sind lustvoll, frei, übermütig. (…) Er fordert uns auf seine höfliche, beinahe beiläufige Art heraus, wie er das in all seinen Texten tut, nicht laut, nicht provokativ, aber unmissverständlich.»

Das Buch von Wyss ist per Email bestellbar bei der trigonis GmbH, Brandstrasse 25, 8952 Schlieren, info@trigonis.ch
Der Blog von Wyss findet sich unter  www.nikolauswyss.blogspot.com

Text: Martin Gollmer, Bilder: zVg.

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