Donnerstag, März 28, 2024
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«Mehr Schweizer als mancher Schweizer»

Die Italiener sind die zweitgrösste Ausländergruppe in Schlieren. Einer von ihnen ist Salvatore Cavallo. Er lebt seit gut fünfzig Jahren hier. Der «Schlieremer» hat mit ihm über das Gestern und Heute gesprochen.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Auch Italien litt unter den Zerstörungen. Zwei Millionen Arbeitslose zählt, das Land nach dem Krieg. Die Schweiz dagegen war verschont geblieben; ihre Wirtschaft war intakt. Sie benötigte Arbeitskräfte – um zu expandieren, aber auch um den Anstieg der Löhne zu bremsen. Bald strömten Immigranten aus dem südlichen Nachbarland in die Schweiz. Sie stellten die zweite Einwanderungswelle aus Italien dar. Die erste fand schon im 19. Jahrhundert statt. Der Aufbau der Infrastruktur des jungen Bundesstaates benötigte Arbeitskräfte. Allein im Eisenbahnbau stellten die Italiener zeitweilig 80 Prozent der Beschäftigten.

Auch nach Schlieren kamen Italiener. 1967 wanderte Salvatore Cavallo ein. Er war damals 19-jährig. Arbeit fand er bei der Bäckerei Buchmann in Zürich als Aushilfe. «Der Stundenlohn betrug 1.50 Franken», erinnert er sich im Gespräch mit dem «Schlieremer». Nach kurzer Zeit ging Cavallo zurück nach Italien. Er war Musiker mit Konservatoriumsausbildung und hatte noch ein Engagement zu erfüllen.

1969 immigrierte Cavallo ein zweites Mal. Diesmal trat er eine Stelle beim Verpackungsspezialisten Egolf in Zürich-Altstetten an. 1970 heiratete er, 1972 kam eine Tochter zur Welt, 1977 ein Sohn. In diesem Jahr wechselte er zur neugründeten Zaugg Emballeur in Schlieren. Diese ist ebenfalls auf Transportverpackungen spezialisiert. Bei Zaugg stieg Cavallo, der auch eine Ausbildung als Schreiner hatte, bald zum Vorarbeiter auf, später betreute er auch Lehrlinge. Dem Unternehmen blieb er bis zu seiner Pensionierung vor sechs Jahren treu. Heute ist Cavallo 71-jährig und wohnt noch immer in Schlieren.

1970 betrug der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz 17 Prozent. Davon waren über die Hälfte Italiener – und das ohne die «Saisonniers» mitzuzählen, die überwiegend ebenfalls aus Italien stammten.

Einst: Gebraucht, nicht geliebt
Die Italiener wurden damals von den Schweizern gebraucht, aber nicht geliebt. Auf dem Bau und in der Industrie mussten sie zu niedrigen Löhnen schuften. Viele waren in Barackenlagern untergebracht. Ihre Familien mussten sie in Italien zurücklassen. In manchen Restaurants waren sie unerwünscht. In der Öffentlichkeit wurden sie manchmal als «Tschinggen» beschimpft.

«Der Anfang in der Schweiz war hart», sagt Cavallo. «Ich hatte Probleme mit der Sprache und mit der Wohnungssuche.» Von den Anfeindungen liess er sich nicht beeindrucken. «Ich bin immer mit erhobenem Haupt durch die Strassen gelaufen», sagt er. Geholfen hat Cavallo die Unterstützung am Arbeitsplatz. «Meine Arbeitgeber haben mich immer gut behandelt und meine Arbeit immer sehr geschätzt.»

Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre hatte sich unter Schweizern zunehmend ein Unbehagen gegenüber den Ausländern breit gemacht. 1963 gründete Albert Stocker in Zürich die «Anti-Italiener-Partei»; bereits 1961 war die «Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» entstanden. Ab Mitte der Sechzigerjahre folgten die sogenannten «Überfremdungsinitiativen».

Die Schwarzenbach-Initiative
Die bekannteste und erfolgreichste davon – die Schwarzenbach-Initiative – wurde vom Rechtspopulisten James Schwarzenbach 1968 lanciert. Der Ausländeranteil sollte auf 10 Prozent begrenzt werden – 350‘000 Immigranten hätten die Schweiz verlassen müssen. Schwarzenbach betrachtete die «braunen Söhne des Südens» als «artfremdes Gewächs» und befürchtete die Infiltration von «kommunistischen Agitatoren» – wie übrigens auch die Fremdenpolizei, die Gastarbeiter und ihre Organisationen bespitzelte. Die Initiative wurde 1970 zwar abgelehnt. Aber eine beträchtliche Minderheit von 46 Prozent stimmte Ja – bei einer Rekordbeteiligung von 75 Prozent. Abstimmen konnten damals jedoch nur Männer.

Und heute, fünfzig Jahre später? Fremdenfeindlichkeit gibt es noch immer in der Schweiz. Sie wird jetzt von der national-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) erfolgreich bewirtschaftet. Überfremdungsinitiativen gibt es nicht mehr, aber Attacken auf das Personenfreizügigkeitsabkommen, das die Schweiz mit der Europäischen Union (EU) geschlossen hat.

Jetzt: Die beliebtesten Ausländer
Das Unbehagen der Schweizer ziehen heute andere Einwanderer auf sich. Die Italiener dagegen sind zu einem akzeptierten Teil der schweizerischen Gesellschaft geworden. Man schätzt an ihnen die Offenheit, die Kommunikations- und Lebensfreude sowie die gute Küche, die sie mitgebracht haben. Mittlerweile sind die Italiener «die beliebtesten Ausländer in der Schweiz», wie eine Zeitung einmal schrieb.

In Schlieren seien sie «gut integriert – vor allem die Jungen», sagt Cavallo. Er kennt die meisten seiner Landsleute in der Stadt. Das, weil er auch Präsident der Associazione Cristiana Lavoratori Internatiozionali (ACLI) Schlieren ist. Diese ist eine Organisation, die Italiener und andere Ausländer bei der Integration in der Schweiz unterstützt. «Wir sind eine Art Sozialamt, das bei der Wohnungssuche, den Steuern, der AHV-Rente und vielem mehr hilft.»

Die Liebe zur Musik führte Cavallo auch in den Musikverein Harmonie Schlieren, wo er jahrelang als Klarinettist mitspielte. An der Jugendmusikschule unterrichtete er zeitweilig Klarinette, klassische Flöte und Saxophon. Zudem dirigierte er in der katholischen Kirche den Kinderchor. In der katholischen Kirchgemeinde war er auch Mitglied der Rechnungsprüfungskommission. Schliesslich machte er noch in der Gasi-Feuerwehr und im Zivilschutz mit.

«Ich bin mehr Schweizer als mancher Schweizer», bilanziert Cavallo sein Wirken in Schlieren. Den Schweizer Pass wollte er trotzdem nicht erwerben, obwohl er mehrmals dazu angeregt wurde. «Das ist mir zu teuer», sagt er in Schweizerdeutsch mit italienischem Akzent. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er nach seiner Pensionierung auch nach Italien zurückgekehrt, wo er in Apulien ein Ferienhaus hat. Aber seine Frau wollte bleiben – wegen den Kindern, die in der Schweiz sesshaft geworden sind.

Zwei Herzen in der Brust
Während des Sommers verbringt Cavallo jeweils mehrere Wochen in Italien in der Nähe von Manduria, wo der gleichnamige Primitivo-Wein herkommt und wo er aufgewachsen ist. An seinem ersten Heimatland liebt er «alles ausser der Politik», vor allem das Essen und das Klima. Bricht er nach den Ferien wieder in die Schweiz auf, sagt er zu seiner Frau: «Jetzt gehen wir nach Hause.» An seiner zweiten Heimat gefällt ihm «alles, nur der Schnee nicht». Besonders angetan haben es ihm die Schweizer Spitäler, die «wie 5-Sterne-Hotels» seien.

In Schlieren lebten Ende vergangenes Jahr 1453 Italiener. Die Stadt selbst zählte zu diesem Zeitpunkt 18‘504 Einwohner. Die Italiener sind damit die zweitgrösste Ausländergruppe in der Gemeinde. Noch zahlreicher sind nur die Portugiesen (vgl. Tabelle). In den Zahlen nicht inbegriffen sind dabei Doppelbürger; sie gelten in der Bevölkerungsstatistik als Schweizer.

Die Italiener in Schlieren sind in mehreren Vereinen organisiert. Neben der ACLI gibt es gemäss Vereinsverzeichnis auf der Website der Stadt noch die Associazione Cetrarese Zurigo, die Associazione Martanesi in Svizzera und die Italienische Elternvereinigung.

 

Text und Foto: Martin Gollmer

 

 

 

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